Mehmet verschränkt die Arme vor seiner Brust und kneift die Lippen fest zusammen. „Darüber möchte ich nicht reden!“ blockt er ab. „Mein Vater war ein Tyrann. Er hat uns gequält und geschlagen – immer wieder.“ Doktor Jennrich bleibt ruhig und wartet erst einmal einen Moment ab. Dann fragt er: „Und wie haben sie das alles ausgehalten – damals?“ Langes Schweigen. Dann bricht es aus Mehmet heraus: „Zuerst habe ich immer wieder versucht, mich in meinem Zimmer zu verkriechen, wenn mein Vater einen seiner Wutanfälle bekam. Manchmal hatte ich Glück, und mein Vater hatte mich vergessen. Aus den Augen – aus dem Sinn. Aber wenn er mich entdeckte, dann gab es harte Worte und oft genug auch harte Schläge. Er hat mich oft genug als ‚Dreck‘ beschimpft. In seinen Augen war ich ein Feigling und ein Versager.“
„Und was hat ihre Mutter gemacht?“ fragt Doktor Jennrich. „Die? – Die hatte viel zu viel Angst vor meinem Vater! Und ist häufig auch von ihm geschlagen worden. Deshalb ging sie nicht dazwischen, sondern schaute immer weg. Aber wenn mein Vater mit seinem Lkw mehrere Tage unterwegs war, dann war sie die beste Mutter der Welt. Doch wenn mein Vater zurück kam, dann war gleich wieder Schluss mit lustig!“
Wieder gibt es eine lange Pause. Dann beginnt Mehmet erneut zu erzählen: „Mit 12 Jahren bin ich schließlich das erste Mal abgehauen. Und als ich am nächsten Tag von der Polizei aufgegriffen und nach Hause gebracht wurde, da hat mein Vater mich zur Strafe grün und blau geschlagen. Da wusste ich: Abhauen ist keine Lösung. Deshalb habe ich mir eine eigene, geheime Welt gebaut.“
„Und wie sah die aus?“ fragt Doktor Jennrich. „Noch mit 12 Jahren habe ich angefangen zu rauchen“, fährt Mehmet fort, „heimlich mit Klassenkameraden. Wir waren wie eine Familie. Da fühlte ich mich plötzlich stark, auch wenn ich die ersten Male fürchterlich kotzen musste. Später spendierte mir einer einen Joint. Als ich den rauchte, fühlte ich mich zum ersten Mal leicht und frei. Es war ein toller Ausgleich zu der Strenge und Gewalt meines Vaters. Dieses schöne Gefühl suchte ich dann öfter. So ließ es sich aushalten, wenigstens für ein paar Stunden. Da war ich gerade 13 Jahre alt.“
Doktor Jennrich hört zu und nickt. „Doch bald reichte das nicht mehr aus. Dieses schöne Gefühl von Leichtigkeit und Freiheit konnte ich immer seltener spüren, aber die gewalttätigen Attacken meines Vaters dafür umso mehr. Und da wurde mir klar: Entweder er oder ich. Entweder bringe ich ihn um, oder ich hau ab – endgültig!“
„Und wie haben sie sich entschieden?“ fragt Doktor Jennrich. „Mann, ich bin doch nicht blöd!“ entgegnet Mehmet. „Wegen dem Alten gehe ich doch nicht in den Knast! Also habe ich die Hauptschule abgebrochen und mich erst einmal bei meinen Freunden durchgeschlagen. Die haben dicht gehalten und mich unterstützt. Da war ich 16. Das ging aber nur ein paar Monate gut. Und dann saß ich auf der Straße – ohne Schulabschluss, ohne Wohnung und ohne Geld.“
„Und weiter?“ fragt Doktor Jennrich. „Haben sie sich Hilfe gesucht bei einer Beratungsstelle oder in einer Jugendwohnung?“ „Das wäre sicherlich besser gewesen“, Mehmet zuckt mit den Schultern, „stattdessen habe ich mich mit kleiner Diebstählen durchgeschlagen, um zu überleben. Und dann hat mir einer Koks angeboten – nur eine kleine Prise. Aber als ich die durch die Nase eingezogen hatte, da ging es mir gleich viel besser. Selbst auf der Straße schien es wie im Paradies. Wenn nur hinterher die Kopfschmerzen nicht immer so grauenhaft gewesen wären. Also besorgte ich mir immer häufiger neues Koks. Denn den bekommst du ganz leicht und überall. Und den finanzierte ich mir durch gelegentliche Aushilfsjobs, wenn es mir gut ging, oder sonst durch immer häufigere kleine Diebereien.“
„Sind sie dabei eigentlich nie erwischt worden?“ fragt Doktor Jennrich. „Nein“, grinst Mehmet, „das Sich-unsichtbar-Machen hatte ich viele Jahre lang zuhause gelernt. Das funktionierte immer noch. Und so ging es eine Zeit lang ganz gut weiter. Irgendwann hatte auch das Koks seine Wirkung verloren. Da probierte ich es mit Heroin. Da war ich ungefähr 20 Jahre alt, so genau weiß ich das nicht mehr.“ Lange Pause. „Jedenfalls ging alles gut, bis sich einmal einer wehrte. Ich hatte nicht richtig aufgepasst, war schon zitterig und unkonzentriert, weil ich dringend Geld und einen neuen Schuss brauchte. Und als er bemerkte, wie ich seine Brieftasche nahm, und laut anfing zu schreien, da habe ich wohl ein bisschen zu fest zugeschlagen. Der Mann ging zu Boden und schlug sich den Schädel auf. Überall war Blut, aber schreien konnte er noch. Da kamen andere Männer herbei und hielten mich fest. Und ich war schon viel zu schwach, um mich noch zu wehren oder davon zu laufen. So wurde ich verhaftet, verurteilt und landete schließlich für sechs Monate im Knast.“ Mehmet holt tief Luft.
„Das war für mich der Wendepunkt“, fängt Mehmet noch einmal an. „So ging es nicht weiter. Dann würde ich irgendwann ganz kaputt gehen. Und ich träumte noch immer von einem normalen Leben – Wohnung, Arbeit, eine Frau und später einmal zwei Kinder. Deshalb nahm ich das Angebot an, während der Haftzeit eine Entgiftung zu machen. Und jetzt bin ich nach Toppenstedt gekommen, um neu leben zu lernen. Vielleicht ist das meine einzige Chance…“ (Weiter: In der Gruppe)
Die beispielhaften Lebensgeschichten sind auf der Grundlage von anonymisierten Auszügen aus Fallprotokollen geschrieben werden. Alle Namen – sowohl die der PatientInnen als auch die der TherapeutInnen – wurden geändert. Die Fotos sind Symbolfotos, um die PatientInnen zu schützen.